Brexit? Nein danke!

Nach unserem England-Ausflug zum Oldtimer-Rennen im englischen Goodwood im Jahre 2012 wurde es für die Tegernseer Oldtimerfraktion wieder einmal Zeit für einen neuen Besuch auf der britischen Insel – diesmal ging es nach Bicester.

Bicester? Was ist denn das? Und wo ist das genau? Die kleine Stadt klingt ein wenig nach britischer Würzsoße und spricht sich „Bisster“ aus, nicht etwa Bitschester. Sie hat 35000 Einwohner und liegt rund vier Landstraßenstunden nordwestlich von London in der Region Oxfordshire. Recht grün ist es dort in der sanft hügeligen Landschaft, die von kleinen Kanälen und stillen Flüsschen durchzogen wird. Aber warum sollte man da hinfahren? Gut, die ehrwürdige Stadt Oxford befindet sich in der Nähe. Wirklich sehr nett und wir haben sie auch besucht. Genau, wie die nebenan liegende Kleinstadt Woodstock mit dem Schloss Blenheim. Dort ließen wir uns ein verspätetes englisches Frühstück in einem winzigen Straßencafé servieren. Alles freundliche Leute hier, die sich stets beeilten, uns offensichtlichen Bayern zu versichern, dass sie es bestimmt nicht waren, die für den englischen Brexit gestimmt haben. Der Ausstieg Großbritanniens aus der EU ist nach wie vor beherrschendes Thema in den Cafés, Pubs und Geschäften. Man entschuldigt sich sogar bei uns für diese Abstimmung des eigenen Volkes.

 

Aber deshalb sind wir nicht gekommen, mit dem Billigflieger von München nach London, dann weiter per reserviertem Mietwagen. Wir, das sind Markus, Sepp, Hellmuth und Martin, allesamt Mitglieder des Tegernseer Oldtimerclubs. Jetzt sitzen wir hier im rechtsgesteuerten Mietauto, wursteln uns durch den dichten Verkehr der einfach nicht enden wollenden Vorstadtbezirke von London und atmen nach gut einer Stunde Fahrzeit endlich Landluft ein. Herrlich, die Betonhäuser liegen hinter uns, der wuselige Lieferverkehr auch und erst recht der verwirrende Schilderwald. Schloss Windsor zieht an uns

vorbei; es wird gemütlich. Die Sonne blinzelt hinter den weißen Wolken hervor, der milde Westwind trocknet die Tropfen des letzten Regenschauers und die Zahl der Kreisverkehre pendelt sich endlich auf ein halbwegs normales Verhältnis von drei pro zehn gefahrenen Meilen ein. Ja, das ist England heute. Und so erreichen wir unbeschadet das gewünschte Ziel: Bicester.

 

Der Ort hat natürlich etwas mit alten Autos zu tun; sonst wären wir ja nun nicht hier. In Bicester findet allsommerlich das Flywheel Festival statt. Klingt nach einem Dorffest mit Oldtimern, ist aber mehr. Am Rand von Bicester befindet sich ein riesiges Areal, das seit dem Ersten Weltkrieg von der Royal Air Force genutzt wurde, den englischen Luftstreitkräften. Da gibt es Landebahnen, Hangars, Werkhallen, Platz bis zum Horizont. Das Besondere: Weil die Deutschen das Areal im Zweiten Weltkrieg mit ihren Bombern verfehlt haben, sieht alles noch so aus wie in den 1930er Jahren: Backstein-Gebäude, Pflasterwege, Antik-Tower, Schmiedeeisentore. 2004 hat die Air Force das Gelände verlassen – einfach leer geräumt, Tore zu, Schlüssel abgezogen. Fast zehn Jahre lag das Bicester Air Field brach, bis 2013 ein paar

Oldtimer-begeisterte Engländer auf die Idee kamen, aus dem langsam verfallenden Areal ein Oldtimer-Zentrum zu machen: für Restaurationswerkstätten, Oldtimerhändler, Teilelager und Parkplatz für alte Flugzeuge. Und für ein jährliches Festival, zu dem alte Autos, Motorräder, Militärfahrzeuge und

Flugzeuge eingeladen sind, das Bicester Flywheel (zu deutsch: Schwungscheibe) Festival.

 

Und deshalb stehen wir nun in einer echt britischen, weil niemals drängelnden Menschenschlange vor dem Kassenhäuschen des Veranstalters. Unsere bayerische Trachten-Kluft mit kurzen Lederhosen und Haferlschuhen wird von den Briten freundlich und unaufdringlich bestaunt. Man grüßt uns sichtlich wohlwollend mit einem respektvollen Nicken, wobei sich die englischen Besucher aber ebenfalls traditionell herausgeputzt haben: überall Tweed-Sakkos, Knickerbocker, Uniformen, seltsame Mützen und Hüte, die Damen mit Plissee-Kleidern, Hochsteck-Frisuren und züchtigen Blusen. Man kostümiert sich gerne in England. Wir haben unseren hässlichen Mietwagen auf dem weitläufigen Parkplatz versteckt, während die englischen Besucher stilvoll per Oldtimer anrollen. Allein was sich da auf dem Parkplatz aufreiht, bringt uns zum Staunen, weil die britische Oldtimer-Szene so ganz anders ist als die deutsche. Das liegt nicht nur an der Kleidung der Insassen, sondern vor allem an den Fahrzeugen. Die bei uns üblichen Mercedes, Porsche und VW sind hier richtig selten. Dafür gibt es Wolseley, Bristol, Armstrong-Siddeley, Gilbern, Ogle, Lancester, Humber, Vauxhall und diverse Ford aus englischer Produktion, die man bei uns nie zu Gesicht bekommt. Gewürzt wird das Ganze durch schräg aussehende Lieferwagen von Austin, Bedford oder Morris sowie bassig tuckernde Motorräder von BSA, Vincent, Matchless, Rudge, Velocette oder Triumph.

 

Genau deshalb sind wir hier: Es ist alles so anders hier. Die Besucher, die Oldie-Besitzer, die Veranstalter, die Fahrzeuge und hier in Bicester auch die Lokation. Alles fügt sich hier zu einem stimmigen Gesamtbild, was einen gehörigen Teil der Faszination ausmacht. Und die Veranstalter haben sich viel Mühe gemacht: Guter Tee, scheußlicher Kaffee und selbst gemachter Kuchen wird an den minimal 50 Jahre alten Imbissbuden von ulkig kostümierten Frauen stilvoll auf altem Porzellan serviert. Livemusik ertönt von Bands und Kapellen, mal im Stil der Goldenen 1920er Jahre, mal Rock’n Roll aus den 1950ern. Ein traditionelles Aktionshaus versteigert Dutzende Oldtimer aller Preisklassen. Ein kleiner Demonstrations-Rennkurs ist mit Strohballen auf einer der Asphaltflächen ausgesteckt. Der gute alte Stirling Moss kommt vorbei zu einer Autogrammstunde und hat für jeden Schlangesteher einen freundlichen Satz übrig. Mitgebracht hat er übrigens sein ganz normales Zugfahrzeug, mit dem er seinerzeit seine Rennautos zu den Strecken transportiert hat – einen Rolls-Royce Phantom Kombi

mit Holzheck aus den 1930er Jahren.

 

Wir sitzen auf den hölzernen Stühlchen im Rasen vor einer fahrenden Teestube und staunen schon wieder: Da landet eine offene de Havilland Tiger Moth mit spotzendem 6,1-Liter-Motor lässig auf einer Rasenbahn. Dort fegt ein Aston Martin DB2 aus den 1950er Jahren im Drift haarscharf an den Strohballen des Rennkurses vorbei. Hinter uns wird der 9-Zylinder-Sternmotor mit Verlustschmierung eines Peugeot-Motorrad (P50t) von 1930 durch Anschieben zum Leben erweckt. Neben uns sitzt ein etwa 10-jähriger Junge samt Vater, quer über dem Schoss ein augenscheinlich echtes Militär-Gewehr – der Junge! Die Briten sehen das alles eben sehr entspannt. Mit offenen Mündern beobachten wir eine Formation von Doppeldeckern aus der Zeit des Ersten (!) Weltkriegs, deren reichlich mutige Darbietungen in der Luft von Kanonenböllern am Boden gewürzt wird. Bei uns würde man für so etwas sofort verhaftet werden. Hier dagegen steht eine ältere Lady mit rosa Hütchen neben uns, lächelt uns freundlich an und bemerkt: What a Wonderful noise, isn’t it? Was für ein herrliches Getöse. Die Flieger landen wieder alle wohlbehalten, aber dennoch verbleibt so ein bassiges Gebrumm in der Luft. Wir verfolgen das Geräusch und treffen auf einer großen Wiese am anderen Ende des Areals auf eine fröhliche Truppe, die sich um die Erhaltung von alten Panzern kümmert. Und diese vorführt. Alle Besucher dürfen auf den ketten-rasselnden Ungetümen mitfahren. Die englischen Kinder sind entzückt, die Eltern machen Fotos. Sagten wir schon, dass es eben sehr unverkrampft bei den Briten zugeht?

 

Das ist genau die Atmosphäre, die bei uns den Entschluss reifen ließ, nach unserem gelungenen Ausflug zum Goodwood-Revival-Festival im Jahr 2012 erneut nach England zu reisen. Alle wollten wieder mitmachen und so trafen wir Vier uns ein halbes Jahr zuvor in einer Kneipe in Bad Tölz. Zu diesem Abend brachten wir Laptops, Tablets und Internet-Anschluss mit und vertieften uns am bayerischen Kneipentisch per WorldWideWeb in die Welt der englischen Oldtimer-Szene. Da gibt es unglaublich interessante Treffen, aber am Ende wurde es eben Bicester mit seinem vielversprechenden Flywheel Festival. Auf Internetfotos vom Vorjahr waren gut gelaunte Leute, ungewöhnliche Autos, alte Flugzeuge und das herrlich patinierte Air-Force-Areal zu sehen. Alles offen zugänglich – auch das ist typisch britisch. Da sprang bei uns der Funke über.

 

Zwei volle Tage verbringen wir dann auf dem Festival. Nie ist es langweilig. Wir werden interviewt, fotografiert (natürlich erst nach höflicher Anfrage) und wie selbstverständlich in Gespräche der Engländer eingebunden, wenn man in einer Gruppe von Besuchern steht, die beispielsweise den Startvorbereitungen eines geschätzt 70-jährigen Besitzers eines Zweitakt-Karts aus den 1950er Jahren beiwohnt. Alle gehen höflich und respektvoll miteinander um. Gockelhafte Angeberei und ungebührliches Auftreten sind in der englischen Oldtimer-Szene zum Glück selten zu finden. Zuschauer schieben spontan startunwillige Oldies an. Der Pilot eines 500000-Pfund-Flugzeuges plaudert hier

am Imbisswagen wie selbstverständlich mit dem Besitzer eines stark patinierten 60er-Jahre-Mopeds über die Geschmacksnote des servierten Tees. Standesdünkel und Ausgrenzung gibt es hier nicht. Das hat uns bereits seinerzeit in Goodwood beeindruckt, wo der Besitzer eines vorbeifahrenden 20er-Jahre Bentley im geschätzten Wert von einer halben Million uns vier Fußgänger freundlich aufforderte, doch bei ihm mitzufahren, um den Weg für uns weniger beschwerlich zu machen. Wohlgemerkt, wir liefen auf einem staubigen Feldweg und unsere Schuhe waren deshalb alles andere als sauber. Würde das ein deutscher Fahrer einer solchen Pretiose machen?

 

Morgens und Abends schnuppern wir englische Atmosphäre außerhalb des Festival-Geländes. Wir fahren herum, laufen durch Ortschaften, besichtigen Läden, sitzen in Cafés und Pubs, essen in englischen kleinen Restaurants und übernachten in einem steinalten Landgasthof mit ulkigen Tapeten, knarrenden Holztreppen und flauschig-weichen Teppichböden. Schnell, zu schnell sind unsere englischen Tage vorbei. Der Flieger spuckt uns wieder in die Realität deutscher Autobahnraser und unerzogener Vordrängler an der Bäckereitheke. Doch der nächste Ausflug kommt bestimmt!